Wien, 3.12.2021
MEDIENINFORMATION
Erneuter Lockdown – Keine armutsfeste Arbeitslosenversicherung in Sicht
Wie die aktuellen Zahlen des AMS zeigen, kommen derzeit weiterhin rund vier Arbeitslose auf eine offene Stelle. Zudem verstetigt sich die Zahl der Arbeitslosen – insbesondere jene der Langzeitarbeitslosen. Und dennoch, ein armutsfestes Arbeitslosengeld ist weiterhin nicht in Sicht.
Beim „Reformdialog“ über die Arbeitslosengversicherung, zu dem Arbeitsminister Kocher derzeit Vertreter*innen der Zivilgesellschaft, darunter auch Proponent*innen des Volksbegehrens Arbeitslosengeld Rauf, einlädt, hielt sich Kocher über den Ausgang des Reformdialogs und die Ziele bedeckt. Im Raum steht ein degressives Modell, eine dauerhafte Erhöhung des Arbeitslosengeldes lehnt Kocher ab. Stattdessen betonte er, dass die Reform den Interessen der Unternehmen und der Arbeitnehmer*innen gleichermaßen gerecht werden soll. Wir wollen in dem Zusammenhang daran erinnern, was das Arbeitslosengeld ist: Das Arbeitslosengeld ist eine Versicherungsleistung, die Menschen gegen das wirtschaftliche Risiko des Arbeitsplatzverlustes absichert. Dieses Risiko tragen Arbeitnehmer*innen und nicht Unternehmen. 1975 schrieb Kurt Rothschild „Eine humane Arbeitsmarktpolitik kann sich (…) nicht einfach als Ersatz für einen versagenden Marktmechanismus verstehen, sondern wird bei ihren Maßnahmen die Bedürfnisse der Arbeiter ebenso zu berücksichtigen haben wie jene „der Wirtschaft“ (…) Denn wir haben es ja hier nicht mit Waren, sondern mit Menschen und ihren Bedürfnissen und Präferenzen zu tun.“
Wie das geschehen kann, bringen Proponent*innen des Volksbegehrens „Arbeitslosengeld rauf“ in den folgenden Statements zum Ausdruck:
Peter Rosei (Autor und Proponent des Volksbegehrens) betont, bezugnehmend auf die Kampagne des Sommers, in der trotz weiterhin hoher Arbeitslosenzahlen und geringen Stellen Arbeitslose unter den Generalverdacht der „Arbeitsscheu“ gestellt wurden: „Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen“, heißt es beim Apostel Paulus. Die aktuelle Version lautet im Moment: „Jeder, der gesund ist, soll arbeiten.“ – Wer wollte diesen Weisheiten widersprechen? Die Frage, wie denn die angepriesene Arbeit ausschaut und etwa, wie sie bezahlt wird und werden soll, geht dabei sang- und klanglos unter. Der Glanz vollmundiger Behauptungen bringt lästige Details taschenspielerisch zum Verschwinden. Eine Gesellschaft, die Erwerbslosen den Brotkorb höher hängen will – unter der freilich unausgesprochenen und damit tatsächlich infamen Anmutung, sie alle wären faul und arbeitsscheu- und die es zugleich in Ordnung findet, dass Manager oft das Hundert-, Zweihundert- oder Dreihundertfache eines Durchschnittsgehalts verdienen, wäre gut beraten, einmal grundsätzlich darüber nachzudenken, was unter dem Begriff Arbeit eigentlich firmiert, wer oder was denn bestimmt, was darunter verstanden wird und wer dabei das Reden hat.“
Mit Blick auf die mehr als 100-jährige Geschichte des Arbeitslosengeldes führt Georg Spitaler, Politologe, Historiker und Proponent des Volksbegehrens, aus: „Als der Nationalrat im März 1920 das Arbeitslosenversicherungsgesetz beschloss, befand sich Österreich in einer katastrophalen wirtschaftlichen und sozialen Lage: Die Pandemie der spanischen Grippe war gerade überstanden, es herrschte Hyperinflation und hohe Arbeitslosigkeit. Trotzdem wurde das Gesetz im demokratischen Aufbruch nach 1918 durchgesetzt. Eine „Sozialutopie ist nun zur Wirklichkeit geworden“, wie die Arbeiter-Zeitung damals schrieb. In der Weltwirtschaftskrise der frühen 1930er Jahre sollte sich zeigen, dass das soziale Netz trotzdem zu schwach geknüpft war, etwa weil die Anspruchsberechtigung auf Arbeitslosenversicherung nur sehr kurz war. Heute ist Österreich eines der reichsten Länder der Welt. Ich wünsche mir den Mut der Politiker*innen von 1920, um Arbeitslosen eine umfassende soziale Teilhabe an der Gesellschaft zu ermöglichen – und damit in krisenhaften Zeiten den sozialen Zusammenhalt und unsere Demokratie zu stärken.“
Auch der Gewerkschafter Georg Erkinger (GLB Steiermark), Proponent des Volksbegehrens, betont, dass es einen politischen Willen braucht das Arbeitslosengeld so auszugestalten, dass Betroffene gegen Armut abgesichert werden: „Die Folgen der Corona-Pandemie haben am Arbeitsmarkt tiefe Spuren hinterlassen. Langzeitarbeitslosigkeit hat massiv zugenommen. Durch den neuerlichen Lockdown werden sich die Probleme weiter verschärfen. Sofort hat die Bundesregierung neue Unternehmenshilfen angekündigt. Zur Absicherung der Krise betroffenen Arbeitslosen ist ihr jedoch bisher nichts eingefallen. Es braucht daher unverzüglich eine Erhöhung des Arbeitslosengeldes und ebenso eine Aufstockung der Notstandshilfe.“
Daniela Brodesser (Kolumnistin, Autorin, Lektorin, Aktivistin und Proponentin des Volksbegehrens): „Niemand wacht eines morgens auf und beschließt ab nun in Armut zu leben, weil es so bequem ist. Armut ist ein täglicher Existenzkampf, der dir alles abverlangt. Doch das derzeitige Arbeitslosengeld macht genau das – es bringt Menschen in die Armut. Ein niedriges Arbeitslosengeld (oder gar ein degressives) bedeutet, täglich mit existenziellen Sorgen aufzuwachen. Die Erhöhung des ALG ist längst überfällig. Nur indem wir Betroffenen die Folgen von Armut nehmen, vermeiden wir Folgeerkrankungen (Existenzangst und Beschämung führen nachweislich zu psychischen und physischen Erkrankungen). Und nur durch eine Erhöhung können wir einen wichtigen Schritt zur Bekämpfung der Kinderarmut setzen.“
Das Volksbegehren nimmt im Dialog um die Reform des Arbeitslosengeldes die Position für eine menschenwürdige Reform des Arbeitslosenversicherungsgesetzes ein, welche Arbeitnehmer*innenvertretungen seit Beginn der Pandemie fordern:
- eine dauerhafte Erhöhung des Arbeitslosengeldes auf mind. 70% der Nettoersatzrate
- und eine Entschärfung der Zumutbarkeitsbestimmungen.
Damit wäre ein entscheidender Schritt zur Bekämpfung von Armut, für soziale Teilhabe und – durch den Erhalt der Nachfrage – gegen Arbeitslosigkeit gesetzt. Das Volksbegehren befindet sich mit fast 20.000 UnterstützerInnen noch in der Einleitungsphase. Im Jänner 2022 soll beim BMI eine Eintragungswoche beantragt werden.